Architektur im Autoland Räume im Spannungsfeld der Transitinfrastruktur; Die Strasse als verbindendes Element und Bühne architektonischer Intervention Freie Masterthesis / Herbstsemester 2024 / von Valentin Böhm G S E d u c a t i o n a l V e r s i o n 1 : 1 0 0 0 A R C H I T E K T U R I M A U T O L A N D F R E I E M A S T E R T H E S I S / V A L E N T I N B Ö H M H O C H S C H U L E L U Z E R N H S 2 0 2 4 2 3 4 Architektur im Autoland Architektur im Autoland Architektur im Autoland Architektur im Autoland 6 7 INHALT PROLOG Alles festgefahren? 11 INTERVENTION Bühne des Autolandes 21 THEORIE Architektur und Automobil 25 Ratlosigkeit 45 INTERVENTION City Hall Gardens 47 Schindler Forest Campus 53 Linear Interactive Village 59 Central Carscape 67 EINSCHUB Bildsequenz 72 ANALYSE Strip 89 Masterplan 93 Raumtypologien 105 9 INHALT INTERVENTION Historic Center 109 Suburban Metropolis 115 Sunset Blvd. 121 Grand Plaza 127 ABSICHT Perspektivwechsel 133 Szenen denken 141 INTERVENTION Commercial Monument Street 147 Scenic View Park 153 Urban Network Neighborhood Transit Park 165 EPILOG Aktiv Formen! 171 159 PROLOG Alles festgefahren? «Man darf im Wesen der Architektur die Hauptmerk- male von allem Formschaffen erkennen. Ihr passen sich willig alle anderen Formäusserungen des Lebens an. Darum wird der Rhythmus, der eine zeitgemässe Architektur bestimmt, auch die übrigen Formen, die unsere Umgebung bilden, beeinflussen, in erster Linie natürlich die Dinge, die mit dem Verkehr in unmittel- barem Zusammenhang stehen.» ¹ Peter Behrens beschreibt in diesem Text die Anpassungsfähigkeit der Architektur, geprägt von der Eile und Hast der Entwicklungen seiner Zeit. Bis heute hält die sich selbst verstärkende Spirale der Beschleunigung unserer Welt und aller Entwicklungen, die sie hervorbringt, an. Der wirtschaftliche Druck, jedes Jahr Wachstum zu erzielen, prägt als Instrument des Kapitalismus unsere Umwelt und unseren Alltag. Dem gegenüber steht die Forderung nach Entschleunigung angesichts der drohenden und scheinbar unaufhaltsam voranschreitenden Katastrophe des Klimawandels. 11 PROLOG Die Idee der Entschleunigung hat sich seit der ersten Weltklimakonferenz 1970 aber kaum durchgesetzt. Fast jedes Jahr wurde bisher, mit Ausnahme der Corona-Pandemie, mehr CO " ausge- stossen als im Jahr davor. 2 Stattdessen scheint es so, als würde die Flucht nach vorne angestrebt. Eine Trans- formation, welche die Weltengemeinschaft nicht ausbremst, sondern durch klimaverträglichere, tech- nologische Fortschritte, den Beibehalt der Freiheiten und des Wohlstands erreichen soll. Zwischen Beschleu- nigung, drohender Katastrophe und als einer der Hauptträger beider, steht besonders der Verkehr und der Raum der Strasse im Fokus. 3 Der Raum der Strasse ist eine Archi- tektur, die effiziente alltägliche Bewegung ermöglicht und zugleich zentraler Raum des öffentlichen Lebens – eine Einsicht, die Nolli bereits 1748 veranschaulicht hat. Gerade als sich die Folgen der Hochindustrialisie- rung in Städtebau und Architektur manifestierten, stand dieser Raum im Zentrum der Veränderung. Die Erfindung und Implementierung des Automobils in das alltägliche Leben konfrontierte das gebaute Umfeld und blickt heute auf eine konfliktreiche Beziehungsge- schichte zwischen Verkehrsinfrastruktur und Archi- tektur zurück. In einer Zeit, in der sich viele Gemeinden einer Postautomobilität zuwenden und der Verkehr statt einer «Freiheit für alle» sich als «Problem für Lebensraum und Klima» herauskristallisiert, sucht die Architektur nach entsprechenden Antworten. 4 Im Fokus steht dabei besonders der Raum zwischen Stadt und PROLOG Land, den das Automobil und die damit einhergehende schnelle Erreichbarkeit erst ermöglicht haben und der Mitgrund für die stetig voranschreitende Zersiedelung des Landschaftsraums ist: Die Agglomeration. Heutzutage leben 75% der Schweizer Bevölkerung in Agglomerationen. 80% der Arbeit und 84% der Wirtschaftsleistung werden in diesem Raum generiert. Gleichzeitig wird sie fast immer mit Gestalt- losigkeit, Fragmenthaftigkeit und Identitätslosigkeit in Verbindung gesetzt. 5 Die «Nur-Autostrassen», welche das Rückgrat dieser Ballungsräume bilden, sind geprägt durch die reine Ausrichtung auf den motorisierten Indi- vidualverkehr (MIV), wie es die Beschreibung des Entwurfsprinzips der HaFraBa von 1927 schon aufzeigt. «Das Ideal einer Autostrasse ist eine gerade, breite, dauerhafte Fahrbahn, die durch möglichst billiges Gelände führt.» 6 Die menschenfeindliche Gestaltung des Entstandenen erlaubt meist nur eine monofunktio- nale Nutzung des Raums; was bleibt, ist Transit. Transit (von lateinisch trans = «durch», ire = «gehen») bezeichnet: Transitverkehr, einen Staat oder ein bestimmtes Gebiet durchquerenden Verkehr. 7 «Architektur im Autoland» ist der Titel dieser Arbeit. Sie setzt sich mit der weltweit auftre- tenden Erscheinung der Autostrassen im agglome- rierten Raum auseinander. Als grösste zusammenhän- gende Megastruktur durchdringt und beeinflusst das 13 12 PROLOG PROLOG 15 14 Strassennetz den gebauten Raum. Die Gebäude entlang der Strasse sind dabei nicht nur Haltepunkte, sondern Teil dieser endlosen Struktur. Sie sind wie Module, die das Fliessen von Raum und Bewegung gestalten. Die Auswirkungen des sich stetig ausbrei- tenden Infrastrukturnetzes auf das gebaute Umfeld wurden über Jahrzehnte in zahllosen Werken festge- halten, die den jeweiligen Zeitgeist widerspiegeln. Diese Momentaufnahmen zeigen zunächst die Begeisterung und Inspiration für das Automobil, gefolgt von der Rück- besinnung auf die extremen anthropogenen Eingriffe in das Landschaftsbild durch die notwendige Infra- struktur und die entstehenden Architekturen, bis hin zur optimistischen Neubewertung des aufgefundenen Raumbestands. Heute wird eher reflektierend und resi- gniert auf die Geschichte zurückgeblickt. So fasst das Werk «Automobil und Architektur» die Inspiration und die Auseinandersetzung der Architekturen im Kontext des Automobils und der verschiedenen Auffassungen von Automobilität als «kreativen Konflikt» zusammen. 8 «Die autolose Stadt als baldige Tatsache und das Auto als Atavismus», so skizziert der Autor Erik Wegerhoff die Zukunft des «kreativen Konflikts», als einen überwunden geglaubten Zustand. 9 Die Beschleu- nigung hat jedoch Spuren hinterlassen. Die Entschleu- nigung und der Abschied vom Auto in der Stadt erscheinen im agglomerierenden Raum als festge- fahren und handlungsunfähig. Es ist zwar tatsächlich so, dass das Auto- mobil aus dem Architekturdiskurs von heute verschwindet, doch in aktuellen Debatten scheint es, als wäre die einzige Antwort auf die Agglomeration und insbesondere auf den Verkehr, die Verdichtung. Agglo- meration müsste Stadt werden, um das Problem des ständigen Verkehrs zu überwinden und ihn final durch Verkehrsberuhigungsmassnahmen hinter sich zu lassen. Die notwendige Verdichtung um die, wie von Jürg Sulzer und Martina Desax beschriebene «Stadtwerdung der Agglommeration» zu erreichen, scheint jedoch selbst unter dem aktuell prognosti- zierten Wachstum im Hinblick auf die «10-Millionen- Schweiz», aber auch unter den immer noch gültigen Klimazielen bis 2050 vielerorts eine Hoffnung in ferner Zukunft zu sein, angesichts der schieren Anzahl und Ausbreitung der Agglommerationsgemeinden, gekop- pelt mit der geringen Nutzungsdichte dieser Orte. 10, 11, 12 Das Dilema zwischen selbstgeschaf- fener Abhängigkeit des Verkehrs und der geforderten Reduktion angesichts der drohenden Katastrophe des Klimawandels führt zu einer unsichereren Zukunft des Automobils, welche sich in Zögerlichkeit und Ratlosig- keit, auch in der Zunft der Architekt:innen, einen Umgang mit diesen Raumsituationen zu finden, nieder- schlägt. Doch besteht dringender Handlungsbedarf. PROLOG Die «Architektur im Autoland» ist daher ein weiterer Schritt in der Auseinandersetzung mit den Autostrassen. Sie beschäftigt sich mit agglomerie- renden Räumen entlang der Hauptverkehrsachsen. Die hier geführte Untersuchung geht dabei nicht von einem Rückgang des Transitverkehrs aus, sondern sucht nach Ansatzpunkten, den Raum der Strasse in einem Szenario zwischen Städtebau und einzelnen architektonischen Projekten neu zu verhandeln. Wie sein Namensgeber in Las Vegas dient der «Strip» von Ebikon als Case Study. 13 Als Ortsdurchfahrt verbindet er Ebikon mit dem Zentrum von Luzern und ist ein Extrembeispiel für Strassenräume, welche sich ähnlich siedlungsunverträglich ausbilden. Die Bühne des Autolandes. 16 01 Behrens 1914, S.10. 02 International Energy Agency(04.01.2025). 03 BFS(14.10.2024). 04 Wegerhoff 2023, S.11. 05 ARE (07.06.2024). 06 Otzen 1927, S.10. 07 Cambridge Dictionary (07.06.2024). 08 Wegerhoff 2023, S.10. 09 Bächtiger 2024. 10 Sulzer / Desax 2015, S.7-8. 11 Bundesamt für Umwelt (08.06.2024). 12 BUWD - Kanton Luzern (08.06.2024). 13 Venturi / Scott Brown / Izenour 1972. 21 Bühne des Autolandes City Hall Gardens Schindler Forest Campus Linear Interactive Village Central Carscape Historic Center Suburban Metropolis Sunset Blvd. Grand Plaza Commercial Monument Street Scenic View Park Urban Network Neighborhood Transit Park INTERVENTION 22 Die Autor:innen Regula Iseli, Peter Jenni und Andreas Jud veröffentlichten in 2024 ihr Werk «Städtebau beginnt an der Strasse», welches Möglich- keiten untersucht, wie mit Raumsituationen ähnlich dem Strip umgegangen werden kann. In diesem schreiben sie: «In Bereichen, in denen Gebäude und Freiräume keine Beziehung zu den Strassen aufweisen, kann kein belebter, interagierender öffentlicher Raum entstehen.» 14 Oft werden Verkehrsachsen wie der Strip nicht genügend beachtet. Die Strasse ist dabei nicht nur Transitraum, sondern auch potenzieller Verhandlungs- schauplatz des gemeinschaftlichen Lebens. In dieser Gewissheit zielt die Arbeit darauf ab, erneut durch die Autostrassen inspirierte Räume zu schaffen, welche die Heterogenität der Agglomeration aufgreifen. Die vorgeschlagene Reorientierung und Fokussierung auf den Strassenraum soll genutzt werden, um produktive und identitätsstiftende Räume für alle Teilnehmenden des öffentlichen Raums zu generieren. Es ist essenziell, Siedlungen und ihre Quartiere als Ganzes zu denken und zu gestalten. Im Rahmen dieser Arbeit wird der Strip daher als ein scheinbar endloser, performativer und sich über die erste Häuserreihe ausdehnender Körper behandelt. Das Entwurfskonzept diesen Körper in szenischen Sequenzen zu denken wird dabei genutzt, um die durch den Verkehr isolierte und siedlungsfeindliche Struktur des Strips ganzheitlich anzugehen. Er wird dabei untersucht und anschlies- send sequenziell in Abschnitte unterteilt. Die Eigen- schaften der zwölf entstehenden Szenen werden dabei gefasst, klassifiziert und anschliessend poten- ziert mittels der Erkenntnisse der theoretischen Ausei- nandersetzung. Sie lösen sich dabei bewusst von üblichen baugesetzlichen Regulierungen und rein ökonomischen Zwängen, um das volle Potenzial dieser Räume zu erschliessen. Die Methodik, die Raumab- folge des Ortes von der Strasse aus in Szenen weiter- zuschreiben, wird dabei als Weg aus der scheinbar aussichtslosen Situation gesehen. Die vorgeschlagenen Eingriffe setzen auf räumliche Verdichtung und Nutzungsschichtung, die von der vorgefundenen räumlichen Vielfalt profi- tieren. Sie setzen Absichten für die Ausrichtung der zukünftigen Verdichtung, Entsiegelung, Aufforstung und Vernetzung der bisher isolierten Quartiersstruk- turen. Gleichzeitig stärken sie die angestrebten Atmo- sphärischen Qualitäten der jeweiligen Szene. Der sich entfaltende Reichtum der Szenen schafft ein optimis- tisches Bild für die Zukunft des Autolandes. 14 Iseli / Jenni / Jud 2024, S. 92. INTERVENTION INTERVENTION 23 24 25 THEORIE Architektur und Automobil Der Weg hin zur Schweiz als Autoland begann mit dem Einzug in das 20. Jahrhundert. 1910 lag die Zahl der Motorwagen in der Schweiz bei 2.267. Doch schon 1902, als erst wenige motorisierte Fahrzeuge mit maximal 10 km/h die schweizer Städte durchquerten, schlossen sich 25 Kantone zusammen, um in einem interkantonalen Verkehrsgesetz- Konkordat die Strassen und die motorisierten Maschinen zu regulieren. Einige wenige Kantone schlossen sich nicht an – der Kanton Graubünden verbot Motorwagen sogar ganz. Diese zunächst vorsichtige Haltung wandelte sich mit dem bald beginnenden Zeitalter der Automobiliät. In den «Goldenen Zwanzigern» nahm die Zahl der Fahr- zeuge auf den Strassen rasant zu und erreichte 1922 bereits 15.000. Mit den steigenden Zahlen wuchs der Druck, die motorisierten Maschinen und ihre Infrastruktur zu regulieren. Darauf folgte ein Prozess der Institutionalisie- rung. 1933 trat die erste schweizweite Verkehrsregelung in Kraft, welche 1958 zum immer noch gültigen Strassenverkehrs-Gesetz (SVG) wurde. Dem SVG entsprang anschliessend 1960 das Bundesgesetz für National- strassen. Schliesslich wurde die ASTRA gegründet– die Schweizer Fach- behörde, welche seit 1998 für Strassen, Individualverkehr und deren Regu- larien zuständig ist. Im Zuge der Erweiterung des institutionellen Einflusses wurde das Strassennetz aus Mitteln der ebengenannten Gesetzgebungen ausgebaut und klassifiziert. 15, 16, 17 15 ASTRA (08.06.2024). 16 Quolantoni 07.03.2024. 17 Quolantoni 17.08.2023. 26 27 THEORIE THEORIE 28 29 THEORIE THEORIE In einer ersten Gegenüberstellung von Automobil und Architektur schrieb Le Corbusier- Saugnier 1921 in L’Esprit Nouveau: «Um das Problem der Perfektion zu bewältigen, muss man auf die Festlegung von Standards hinarbeiten. (...) Das Haus ist ein Produkt, das der Mensch braucht.» 18 Er spricht von der Einsicht der Moderne, dass Standardisierung die Voraussetzung für den Fortschritt von allem Gebautem ist. Die Strasse bedarf daher als Bauwerk ebenfalls der Standardisie- rung für die standardisierten motorisierten Maschinen. So ersetzte in Luzern die gewalzte «Asphaltstrasse» als Architektur des Funktionalismus die bis 1920 verbreiteten, chaussierten und teilweise noch von Hand gesetzten Steinstrassen. 19 Mit der Einführung der gewalzten Strassen erschlossen immer mehr standardisierte Kantons-, Gemeinde und inner- örtliche Privatstrassen das historische Gebaute. Mit der Nationalstrasse wurde schliesslich der letzte Typus des Strassenraums eingeführt. 1962 wurde der erste Auto- bahnabschnitt, die A2 von Hergiswil bis zur Luzerner Kantonsgrenze, eröffnet. Auf den Nationalstrassen rollen seitdem Automassen. 20 Abb.01 Le Corbusier-Saugniers Gegenüberstel- lung.Der Standard wird als Vorrausset- zung für Fortschritt porträtiert. Abb.02 Der Fortschritt taucht erneut auf bei der zugespitzesten Form der standardi- sierten Bebauung. 18 Wegerhoff 2023, S.28. (Le Corbuiser- Saugnier 1921) 19 Schiedt 2010, S. 24-25, 43-44. 20 Sandmeier 2020. Abb.01 Abb.02 30 31 THEORIE THEORIE Der Reiz, der schon im Namen liegt – dass sich ein Automobil bewegt, eine Immobilie hingegen nicht –, wie die Gegenüberstellung Le Corbui- sers, schien in der frühen Avantgarde ausreichend, um das Beziehungsverhältnis zu beschreiben. 18 Doch bezeichnete Erich Mendelsohn nur einige Jahre später die «Häuserreihen der (...) Strassen» nur als «Leitwände des schnellen Verkehrs (...), Strassenmauern zu beiden Seiten des ungeahnten Motorstroms». Auch wenn diese Aussage die zentrale Rolle des Verkehrs in der dama- ligen Auffassung des Stadtbilds aufzeigt, war es im Gegensatz wie Mendelsons Praxis belegt, keine Kritik, sondern das Erkennen der Qualität, welche dem szeni- schen Bild der horizontalen Linearität innewohnt, welches im Zustand der starken Beschleunigung wahr- genommen werden kann. 21 Zeitgleich beschäftigten sich gerade die Architekten der delirierenden Metropolen mit der Dreidimensionalität dieser Bewegung. Dieselbe szeni- sche Kraft, die Mendelson der Horizontalität und der Weite zuschrieb, suchten sie, wie Vorschläge wie der von Harvey Willey Corbett aufzeigen, in der Kompression. Mit dem Konzept den Verkehr vertikal zu enkoppeln und Ebenen zur Queerung zu schaffen, wird Gebautes, im Gegenteil zu Mendelson nicht zur Leitplanke, sondern die Strasse zu einer Art Untergeschoss im Gebauten Volumen. So verschwimmt die Grenzen zwischen Gebautem und dem Raum der motorisierten Maschinen. Le Corbusier brachte 1925 als Kritik auf die «Kultur des Staus», wie Rem Koohlhaas retroaktiv die Bewegung rund um die Metropolitane Architektur Manhattens bezeichnet, seine Antithese hervor. Mit dem Plan Voision wurde das Bauen auf der grünen Wiese vorgeschlagen, die Entzerrung als Lösungsvorschlag präsentiert, der Stau und die Kompression gelöst. 22 21 Wegerhoff 2023, S.75 (Mendelson 1924). 22 Koohlhaas 1978, S.235-237. Abb.03 Mendelsohns Entwurf zur Textilfabrik «Ro- tes Banner» im damaligen Leningrad. Die Horizontale wird durch hervorstehende Vo- lumen Rhythmisiert. Abb.04 Corbetts Entwurf zur «City of the Fu- ture». Die Strasse wird vom gebauten Vo- lumen absorbiert. Unterschiedliche Fort- bewegungsgeschwindigkeiten vertikal von einander entkoppelt. Abb.03 Abb.04 32 33 THEORIE Die Installationsarbeit Legible City von Jeffrey Shaw zeigt demgegenüber, wie Erzähl- strängen in einer Stadt gefolgt wird, um so ein Stadtbild wahrzunehmen. Durch schnelleres Treten in die Pedale werden die Erzählstränge undeutlicher, die Bewegung wird schneller, das Bild entzerrt, der Fokuspunkt in der ferne deutlich. Am Beispiel des Plan Voision wird deut- lich wie sich die Beschleunigung durch die Möglichkeiten des Automobils auch auf städtebaulicher Ebene mani- festieren. Doch ist LeCorbusiers Grosstadt-Agglo auch das erste Mal, wo die Freiheit, die das Automobil gibt, kontrastiert wird durch die Abhängigkeit und Distanzie- rung, die die Entzerrung schafft. Ein ebenso entzerrtes Bild findet man heutzutage in Agglomerationslandschaften gebaut vor. Der Strip von Ebikon ist das perfekte Abbild der «Gerade der Geschwindigkeit». 23 Den Strip durch- ziehend nimmt man das entzerrte und durch den Verkehrsfluss getrennte Bild, von der ursprünglichen Stadtmitte bis zum weit entfernten Ende der Gemeinde wahr. Die alte Achse, die schon früher als Fernverbin- dungsstrasse die Orte von Zug bis Luzern – darunter auch Ebikon – wie eine Perlenkette erschloss, verbrei- terte sich über die Jahre. Sie verfestigte sich in der Altstadt Luzerns, wo Historisches weichen musste, um die Verbreiterung zu ermöglichen. Durch das zersie- delnde Wachstum entlang der Verkehrsachse in Ebikon – statt um den Kern herum wie bis 1925 – aber auch durch die Verdichtung und das Ausdehnen Luzerns wuchsen die Orte zusammen. Bereits 1975 flankierte Ebikon den «Strip» fast vollständig. «Damals weideten die Kühe noch bis an die Kantonsstrasse. Heute ist kein grüner Fleck mehr sichtbar.» 24 Der immense Zuwachs des Ortes wird hier am Beispiel der neu entstandenen Wohnblöcke am Schmiedhof deutlich. Trotz der längst vollzogenen Fusion, so schreibt der «Rontaler» nochmals 25 Jahre später, bleibt das Rontal für Luzern «Transit-Land.» 25 THEORIE 23 Wegerhoff 2023, S.15. 24 Rontaler 2012. 25 Ebd. Abb.07 Rontaler - Ebikon um 1975. Abb.06 Jeffrey Shaw - «Legible City». Abb.05 Perspektive - «Plan Voision». 34 35 THEORIE THEORIE 36 37 THEORIE THEORIE Wenn der Transitverkehr statt entlang- leitend direkt auf die Architektur trifft, agiert diese als Bremse der Bewegung. «Anstelle der starken dynami- schen Belastung des rollenden Verkehrs auf Strassen, tritt bei Parkflächen die vorwiegend statische Belastung des ruhenden Verkehrs», heisst es in den Richtlinien für Anlagen des ruhenden Verkehrs von 1975. 26 Der Begriff «Belastung» ist hier markant. Er steht hier für die Emissionen und den Raum, den das Automobil in unserer Welt einnimmt und zeigt somit den Umschwung in der Haltung gegenüber dem Automobil auf. Statt als Mittel zum Fortschritt wird es hier als Bürde wahrgenommen. Wenige Jahre später erschien Rolf Kellers Werk Bauen als Umweltzerstörung, in welchem er die starken Eingriffe in Stadt- und Landschaftsbild durch die Verkehrsinfrastruktur in der Schweiz doku- mentierte. Die brachialen Achsen, die in das Land- schafts- und Ortsbild geschlagen wurden, werden als Albtraumbilder porträtiert. 27 «Not Landscape, not Townscape, only Carscape», formulierte es Peter Blake einige Jahre vor Keller in dem amerikanischen Vorgänger «God’s Own Junkyard». 28 Die hier angesprochene Townscape im Vergleich zur Carscape deutet auf die Ausrichtung der Strasse auf das Auto hin. Während Gordon Cullen in seinem Buch «The Concise Townscape» noch aufzeigte, wie die Raumsequenz des öffentlichen Raums zu Fuss wahrgenommen wird – Tunnel, Öffnungen und Plätze definieren die sogenannte «serial vision» –, zeigen Donald Appleyard, Kevin Lynch und John Myer in «The View from the Road», wie sich diese Abfolgen im heutigen Strassenraum des Autos gestalten. 29,30 Es entsteht ein Zwiespalt, da Raumsequenzen der Stras- senlandschaft auf das Auto ausgerichtet sind, jedoch innerorts auch die Bewegung zu Fuss, mit dem Fahrrad und die Bedürfnisse des Menschen beherbergen. Zwei Ebenen, welche im Raum koexistieren und daher auch gleichermassen gewichtet werden sollten. 26 Wegerhoff 2023, S.82 (FGSV 1975). 27 Keller 1977. 28 Wegerhoff 2023, S.101 (Blake 1964). 29 Cullen 1961. 30 Appelyard / Lynch / Myer 1963. Abb.08 Cullens Townscape - Der Menschliche Mass- tab der in Langsamer Fortbewungsgeschwin- digkeit. Abb.09 View of the Road - Entzerrte Raumabfolgen der starken Beschleunigung. Abb.08 Abb.09