Technische Universität Berlin Fakultät I | Institut für Sprache und Kommunikation Fach gebiet Allgemeine Linguistik Sekretariat H42, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (M.A.) zum Abschlu ss des Masterstudiengangs Sprache und Kommunikation Erstgutachterin: Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz - Friesel Zweitgutachter: Dr. Simon Meier Jedem das Seine Von der Gerechtigkeitsformel zum Synonym von Massenmord ? Eine korpuslinguistische Zeitung s analyse einer nationalsozialistisch belasteten Phrase - eingereicht im Juni 2017 vorgelegt von Julian Gerlach (Matrikelnummer: 361761) Türkenstraße 21 13349 Berlin E - Mail: gerlach.julian@web.de Abstract Diese Arbeit setzt sich kritisch mit der Ve rwendung nationalsozialistisch belasteter Sprache im öffentlichen Diskurs auseinander . Grundlage hierfür ist die jahrtausendealte Gerechtigkeitsformel suum cuique , zu Deutsch Jedem das Seine , die von den Nationalsozialisten als zynische Inschrift am Innent or des Konzentrationslagers Buchenwald angebracht wurde und bis heute für Leidtragende ein Sinnbild des Nationalsozialismus darstellt. Da die Phrase jedoch ebenfalls für Gerechtigkeit, Individualität oder Gleichheit stehen kann und nicht zu den eindeutige n sprachlichen Pejorisierungsstrategien wie Zigeuner oder Neger gehört, wird sie in Printmedien hochfrequent gebraucht. Weiterhin finden sich zahlreiche Verwendungen der Phrase in der Werbebranche , um beispielsweise für einen hohen Grad an Individualität z u werben. Es herrscht somit kein öffentlicher Konsens darüber, wie mit diesem belasteten Ausdruck umgegangen werden soll. Die Arbeit macht es sich zur Aufgabe, diese Ambivalenz genauer zu untersuchen und nach weiteren Gründen zu forschen, warum eine nation alsozialistisch belastete Phrase unbedarft weiterverwendet wird. Inhalt 1 Einleitung ................................ ................................ ................................ ................... 1 1.1 Thesen ................................ ................................ ................................ ................. 2 1.2 Vorgehen ................................ ................................ ................................ ............ 3 2 Forschungsstand ................................ ................................ ................................ ........ 4 2.1 Forschungsstand zur NS - Sprache ................................ ................................ ....... 4 2.2 Forschungsstand zu Jedem das Seine ................................ ................................ 6 2.3 Forschungsstand zur Kenntnis des Nationalsozialismus ................................ .... 8 3 Phraseologische Merkmale von Jedem das Seine ................................ .................... 10 4 Geschichte der Phrasen ................................ ................................ ........................... 13 4.1 Suum cuique in der Antike ................................ ................................ ................ 13 4.2 Suum cuique in der Neuzeit ................................ ................................ .............. 15 4.3 Jedem das Seine im deutschsprachigen Raum ................................ ................. 17 4.3.1 Jedem das Seine im Nationalsozialismus ................................ .................. 17 4.3.2 Jedem das Seine von 1945 - 1998 ................................ ............................... 18 5 Korpusanalyse ................................ ................................ ................................ .......... 21 5.1 Korpus ................................ ................................ ................................ ............... 21 5.1.1 Methodik ................................ ................................ ................................ ... 22 5.1.2 Zeitungen ................................ ................................ ................................ ... 24 5.1.3 Aufklärungsrate ................................ ................................ ......................... 25 5.1.4 Aufklärungsrate nach Zeitungen ................................ ............................... 26 5.1.5 Aufklärungsrate nach Jahr en ................................ ................................ ..... 28 5.1.5.1 Das Jahr 1998 ................................ ................................ ..................... 29 5.1.5.2 Das Jahr 2001 ................................ ................................ ..................... 31 5.1.5.3 Das Jahr 2009 ................................ ................................ ..................... 33 5.1.5.4 Die Jahre 2014 und 2015 ................................ ................................ ... 34 5.1.5.5 Die kontrastiven Jahre ................................ ................................ ....... 35 5.2 Thematische Domänen ................................ ................................ ..................... 36 5.2.1 Aufklärungsrate nach thematischen Domänen ................................ ........ 37 5.2.2 Funktionen von Phraseologismen ................................ ............................. 38 5.2.3 Die Domäne Sport ................................ ................................ ..................... 39 5.2.4 Die Domäne Werbung/Werbungsannoncen ................................ ............. 44 5.2.5 Die Domäne Politik ................................ ................................ .................... 49 5.2.6 Die Domäne Wirtschaft ................................ ................................ ............. 55 5.2.7 Die Domäne Bildung ................................ ................................ .................. 58 5.2.8 Ausgewählte Belege der restlichen Domänen ................................ .......... 62 5.2.9 Phraseologische Aspekte ................................ ................................ ........... 65 5.2.9.1 Definition als Geflügeltes Wort ................................ .......................... 65 5.2.9.2 Extension ................................ ................................ ............................ 67 5.2.10 Zusammenfassung der Verwendung in Domänen ................................ .... 69 5.2.10.1 Muster zur Bewältigung einer kommunikativen Aufgabe ................. 70 5.3 Metasprachliche Belege ................................ ................................ ................... 72 5.3.1 Die Domäne Buchenwald ................................ ................................ .......... 72 5.3.2 Sprachkritische Ansätze nach Verfehlungen ................................ ............. 74 5.3.3 Die Domäne Sprachkritik ................................ ................................ ........... 76 5.3.4 Metasprachliche Deutung der Phrase ................................ ....................... 82 6 Diskussion ................................ ................................ ................................ ................ 85 6.1 Zusammenfassung ................................ ................................ ............................ 88 6.2 Ausblick ................................ ................................ ................................ ............. 89 7 Literaturverzeichnis ................................ ................................ ................................ 91 8 Abbildungsverzeichnis ................................ ................................ ............................. 98 9 Tabellenverzeichnis ................................ ................................ ................................ 100 10 Selbständigkeitserklärung ................................ ................................ .................. 101 1 1 Einleitung „ Alle Leute haben eben so ih re eigenen Ansichten und Vorlieben. Auch vergleichbare Wendungen tragen dem Rechnung. So kann man auch sagen: "jeder, wie es ihm beliebt" oder "jedem das Seine" - ein sehr altes ethisch es Prinzip und geflügeltes Wort.“ 1 Jedem das Seine . Eine Phrase, die To leranz predigt. Die es er möglicht, jedem das zu gewähren was ihm zusteht, das was er persönlich für richtig hält, das Seine eben. Dem im obigen Zitat beschriebenen ethischen Prinzip wohnt jedoch noch ein weiterer Kontext inne, der Teil dieser Arbeit ist. I m Zuge des Baus des Konzentrationslagers Buchenwald wurde die Phrase am Innentor des Lagers angebracht , um die Insassen zu verhöhnen und ihnen tagtäglich vor Augen zu führen, dass sie die an ihnen vollzogenen Gräueltaten verdienen und die Nationalsozialist en legitim handeln. In der Phrase spiegelt sich somit ein immenser Kontrast wider. Sie ist eine wünschenswerte Gerechtigkeitsformel , nach welcher eine Gesellschaft leben sollte und zugleich ein Synonym für das Leid von Millionen von Menschen und Massenmord Die beschriebene Ambivalenz ist Grundlage dieser Arbeit. Auf Basis von 1242 Belegen der Phrase von deutschen und ausländischen Zeitungen soll erörtert werden, wie dieser Bedeutungskontrast zustande kommt. Es soll dabei analog beantwortet werden, ob eine unbedarfte Weiterverwendung der Phrase ohne Bezugnahme auf den nationalsozialistischen Kontext gebilligt wird und ob sich hier womöglich Unterschiede hins ichtlich Zeitungen, Ländern und thematischen Domänen finden lassen. Potenzielle Veränderungen über Ze it können ebenfalls betrachtet werden, da die Belege von 1956 bis 2015 reichen. Die Arbeit biete t somit sowohl eine statistisch - qua ntitative Analyse der Phrase als auch eine qualitative, die die Untersuchung von 82 Einzelbelegen beinhaltet. Dass die Themat ik außerdem ein hohes Maß an Kontroversität beinhaltet und sich über mehrere Jahrtausende erstreckt, wird auch von K LENNER ( 2002:328) erkannt. „Denn Jedem das Seine! ist ins Gerede gekommen. Sehr sogar, und mit politischer Brisanz. Ein Schlagwort also, das Schlagzeilen macht. Auch das ist nicht das Gängige, zumal dieses Schlagwort uralt und der Skandal brandneu ist “ Die 1 Beleg aus der L EIPZIGER V OLKSZEITUNG vom 27.10.2011 zur Interpretation des Sprichworts Dem einen sin Uhl, dem an deren sin Nachtigall 2 Untersuchung der Phrase ist somit Bindeglied zwischen Linguistik, Gesellschaft, Politik und Geschichte. Im Zentrum steht jedoch die Frage, wie eine unbedarfte Weiterverwendung bei solch einer belasteten Phrase zustande kommen kann. 1.1 Thesen Da Jedem das Seine trotz prominenter nationalsozialistischer Vergangenheit auch als ein „ durch keinen spezifischen geschi chtlichen Kontext determinierte[ n] Ausdruck “ ( B RUNNSEN 2010:300) weiterverwendet wird, ist davon auszugehen, dass 1. J edem das Seine nicht dem typischen NS - Vokabular entspricht . Deswegen ist der nationalsozialistische Hin tergrund größtenteils unbekannt 2. es außerhalb des Kontexts des National sozialismus und der Gerechtigkeitsformel weitere vielfältige Kontexte gibt, da die Phrase hochfrequent verwendet wird und durch nichts „determiniert“ ist 3. d ie Phrase darauf basierend, dass si e nicht nur als G eflügeltes Wort verwendet wird 2 , auch linguistisc h betrachtet eine Mischf orm darstellt, welche dann auch unterschiedliche Funktionen besitzt 4. sich die beschriebenen unterschiedlichen Funktionen durch eine vage Semantik realisieren lassen, da das Seine unterspezifiziert ist 5. sich durch die Vagheit ein sprac hliches Modell ergibt, welches universell auf vielfältige Situationen eingesetzt werden kann Während sich die beschriebenen Hypothesen auf Verwendungen der Phrase beziehen, in denen sie semantisch wie funktional in den Kotext eingebunden ist, so ist die Un tersuchung der Belege, die sich metasprachlich auf die Phrase beziehen ebenfalls interessant. Folgende Hypothesen werden hierfür angenommen: 1. Metasprachliche Belege beziehen sich zu einem Großteil auf den Kontext des Nationalsozialismus 2. Es gibt keinen öffe ntlichen Konsens , wie mit der nationalsozialistisch belasteten Phrase umgegangen werden soll 2 Da der Ausdruck zum Teil durch keinen geschichtlichen Kontext determiniert ist, muss es Verwendungsweisen geben, die sich nicht auf eine Definition als Geflügeltes Wort beziehen. 3 3. Daher verfehlen sprachkritische Ansätze ihre Wirkung, da sie keine fundierte Empfehlung abgeben können 4. Semantisch zeigt sich eine hohe Diskrepanz zwischen funktion al eingebetteten und metasprachlichen Belegen 1.2 Vorgehen Zahlreiche Hypothesen zur Phrase Jedem das Seine können nicht nur mit der Analyse des Korpus eingehender untersucht werden. Gleichzeitig ist eine ausführliche Einleitung zum Forschungsstand und Geschi chte der Phrase unabdingbar , um nachfolgend eine geeignete Korpusanalyse durchführen zu können. Daher widmet sich Kapitel 2 der Arbeit den verschiedenen Forschungsständen zur NS - Sprache im Allgemeinen, zu Jedem das Seine sowie zur Kenntnis des Nationalsozi alismus. In diesen Kapiteln soll die Aufarbeitung des lexikalischen NS - Erbes betrachtet werden, da einer adäquaten gesellschaftlichen Auf klärung sowohl eine Kenntnis der Phrase, eine sprachliche Sensibilisierung sowie ein bewusster Umgang mit belasteter Sp rache einhergehen würde. Kapitel 3 befasst sich mit den phraseologischen Merkmalen von Jedem das Seine . Ziel dieses Kapitels ist es, eine zutreffende terminologische Einordnung der Phrase zu finden und die Hypothese der Mischform zu untersuchen. Kapitel 4 widmet sich der Entstehung, der Verwendung und dem Missbrauch der Phrase und analysiert die knapp 2500 Jahre an dauernde Geschichte einer Formel , die bis heute unterschiedlich gedeutet wird. Dieses Kapitel ist Grundlage für die darauffolgende Korpusanalyse und soll außerdem aufzeigen, dass die in den Hypothesen proklamierte vielfältige Semantik der Phrase bereits in der Vergangenheit höchst prominent war. Der Hauptteil dieser Arbeit, Kapitel 5, gliedert sich in drei große Abschnitte. Kapitel 5.1 befasst sich größtenteils mit der statistisch - quantitativen Analyse des Korpus und betrachtet die Hypothese des fehlenden Konsenses zur Weiterverwendung von Jedem das Seine . Als Quantifizierung des fehlenden Konsenses wird eine Aufklärungsrate bestimmt, die die Belege danach gliedert, ob der nationalsozialistische Hintergrund erwähnt wird oder nicht. Dieses Kapitel ist auch Grundlage für die Untersuchung der sprachkritischen Ansätze (Kapitel 5.3.2 und 5.3.3). 4 Kapitel 5.2 ist nach thematischen Domänen gegliedert und ver sucht anhand dieser Domänen verschiedene pragmatische Funktionen der Phrase herauszuarbeiten, um die Hypothese der Polyfunktionalität zu untersuchen. In Kapitel 5.3 werden darauffolgend die metasprachlichen Belege betrachtet , um den nationalsozialistischen Kontext genauer zu untersuchen Schließlich erfolgt e ine Einordnung der gewonnenen Erkenntnisse in Kapitel 6. 2 Forschungsstand 2.1 Forschungsstand zu r NS - Sprache Das Jahr 1945 markiert das „Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ ( S TÖTZEL 1995 ¹ :19) und somit eine „politisch wie auch spr achhistorisch bedeutsame Zä sur.“ Obgleich „die NS - Organisations - und Verwaltungs wörter und der totalitäre Radikalwortschatz nach dem Ende der NS - Diktatur größtenteils rasch außer Gebrauch gekommen sind“ ( VON P OLENZ 19 99:550), so gibt es doch manche Worte , die „ sich so tief eingefressen [haben], daß sie ein dauernder Besitz der deutschen Sprache zu werden scheinen “ ( K LEMPERER 2010:24). Einen wichtigen Grundstein zur Erforschung der NS - Sprache im Osten Deutschlands legte der o ben zitierte Victor Klemperer, der sich schon 1947 mit der nationalsozial istischen Sprache in seinem Buch Lingua Tertii Imperii 3 – Notizbuch eines Philologen auseinandersetzte. 4 Die von ihm veröffentlichten Beiträge im Buch stammen größtenteils aus d er Zeit des Nationalsozialismus, in welchen er in seinem Tagebuch festhält, dass die NS - Sprache den Menschen „in millionenfachen Wiederholungen“ aufgezwungen wurde und die dadurch „mechanisch und unbewußt übernommen wurde“ ( K LEMPERER 2010:25). Obwohl ( S TÖT ZEL 1995 ¹ :19) eine Zäsur für diese Zeit definiert, so hält S CHLOSSER (1995:208) doch fest, dass es eine sprachliche Stunde Null nach 1945 nicht gab. 5 Für die DDR stellt B OCHMANN (1991:86) fest, dass es nach Klemperers Werk keine nennenswerten linguistische n Beiträge mehr zur NS - Sprache gab und der National sozialismus mit dem Faschismus gleichgesetzt wurde. 3 K LEMPERER (2010:19) wählt bewusst die Abkürzung LTI , um als „parodierende Spielerei“ auf die abkürzenden Bezeichnungen der Nazi - Zeit (BDM, HJ, DAF) zu referieren. S TÖTZEL (1995 ² :356) beschreibt den Titel als „Geheimtitel“. 4 Zur Darstellung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Phrase Jedem das Seine siehe Kap. 4.3.2 5 Zu diesem Ergebnis kommt ebenfalls F ALKENBERG (1989:6). 5 Eine sprachkritische Auseinandersetzung mit der NS - Sprache in Westdeutschland wurde insbesondere in der Zeitschrift D ie Wandlung vorangetrieben. Zwische n 1945 und 1948 verfassten Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind verschiedene Artikel, die sich mit dem rassistischen Ra dikalwortschatz auseinandersetz en. 1957 wurden diese Artikel zusammengefasst und als Buch unter dem Namen Aus dem Wörte rbuch des Unmenschen veröffentlicht ( S TERNBERGER /S TORZ /S ÜSKIND 1968) 6 Dass die beschriebenen Bücher ihre breite gesellschaftliche Wirkung bis 1960 jedoch verfehlten, „ lag vor allem an der in der Nachkriegszeit und den 1950er Jahren in ganz Deutschland vor herrschenden Verdrängungsmentalität , die nach der Kapitulation aus dem weit verbreiteten Bedürfnis nach Entlastung von der jüngsten Vergangenheit entstanden war “ ( B RUNNSEN 2010:302), sowie im „komplizierten Charakter des Mediums Sprache“ ( S TÖTZEL 1995 ² :357 ). Eine dezidierte „Weiterverwendungsdis k ussion“ ( S TÖTZEL 1995 ² :356) setzte in den 1960er Jahren in Westdeutschland insb esondere durch Cornelia Berings 1964 erschienenes Buch „ Vom ‘Abstammungsnachweis’ zum ‘Zuchtwart’: Vokabular des Nationalsozialismus“ ei n, welches konträr zu vorangegangenen Büchern „philologisch abgesichert und quellenmäßig breiter angelegt“ ( S TÖTZEL 1995 ² :362) war und über 500 Wendungen der NS - Sprache darlegt ( S CHMITZ - B ERING 1998). 7 Die Studentenbewegung en der 1960 er Jahre führten außerd em zu einer „Änderungen des öffentlichen Bewußtseins und zur erhöhten Sensibilität gegenüber sprachlichen Benennungen“ ( W ENGELER 1995:384). Trotz dessen wurde die Sprache des Nationalsozialismus zur Zeit des Ost - West - Konflikts instrumentalisiert, um damit jeweilige Kontrahenten zu diskreditieren. Diese gängige Diffamierungsmethode manifestiert sich in sogenannten Nazi - Vergleichen ( E ITZ /S TÖTZEL 2007:489), welche trotz hoher Dichte an wissenschaftlichen Arbeiten (u.a. P ÉRENNEC (2008), S CHWARZ - F RIESEL (2013 :19 7 ff. ), S CHWARZ - F RIESEL (2009) S CHWARZ - F RIESEL /R EINHARZ (2013 :231ff./347ff. ) , S TÖTZEL (1989) , W ETTE (2003) ) auch heute noch ein prominentes sprachliches Mittel sind, um zu denunzieren. 8 6 1968 wurde das Buch nochmals um zehn Artikel erweitert und erneut veröffentlicht. V ON P OLENZ (1995:316) definiert die Beiträge jedoch als „und ifferenzierte Breite allgemeiner Kulturkritik“, die ihre Wirkung verfehlten. 7 Dieses Buch wurde unter dem Namen Vokabular des Nationalsozialismus erweitert ( S CHMITZ - B ERING 1998). 8 Dass der NS - Vergleich ebenfalls durch Jedem das Seine realisiert werden k ann, zeigt Kap. 4.3.2 6 Nach 1968 finden sich zahlreiche Werke, die sich kritisch mit der NS - S prache auseinandersetzten und diese auch kategorisierten. Gerade B RACKMANN /B IRKENHAUER (1988) oder P ÄTZOLD ET A L (2002) weisen gegenüber den wesentlich prominenteren Werken , Polenz‘ Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (1999), T hors t en Eitz‘ und Georg Stötzels Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung (2007) , S TÖTZEL /W ENGELER (1995) oder S CHMITZ - B ERING (1998) e inen entscheidenden Vorteil für die gesellschaftliche Reflexion einer missbrauchten Phrase auf. Sie thematisieren die Verw endung von Jedem das Seine im Nationalsozialismus, während die anderen Arbeiten bedeutsamere Beispiele der Sprache des Nationalsozialismus analysieren und Jedem das Seine außen vor lassen Diese Feststellung kann als erster Grund dafür gesehen werden, dass die gesellschaftliche Kenntni s zur Phrase unbefriedigend ist und sie vielfältig eingesetzt wird. Weiterhin ist festzustellen, dass die Aufarbeitung des lexikalischen NS - Erbes nach Ende des Nationalsozialismus bis in die 1970 er Jahre größtenteils verdrängt wurde. Beide Erkenntnisse sind wichtige Faktoren für die folgende Untersuchung der Phrase In Kapitel 2.2 soll dargelegt werden, was Jedem das Seine von anderen sprachlichen Zeugnissen der NS - Zeit unterscheidet. 2.2 Forschungsstan d zu Jedem das Seine Völlig konträr zu dieser gewachsenen Sensibilität mit der Sprache des Nationalsozialismus entwickelte sich die Verwendung der Redewendung Jedem das Seine. Sie kann konträr zu vielen anderen typischen Wendungen nicht pauschal „ jenem ras sistischen Radikalwortschatz [zugeordnet werden] , dessen Inventar — wie zum Beispiel ‘Ariernachweis’ 9 , ‘Blut und B oden’, ‘erblich Minderwertige’, ‘ judenfrei’, ‘Untermensch’ oder ‘Zuchtwart’ — eindeut ig und praktisch ausschließlich in der nationalsozialisti schen Ideologie verankert ist “ ( B RUNNSEN 2010:309) 10 Weiterhin gehört die Phrase nicht zu den typischen Pejorisierungsst rategien der NS - Zeit, zu welchen beispielsweise „vernegern“ oder „rassefremd“ zählen ( B RUNNSEN : 2010:309) . Die Phrase dient ebenfalls ni cht vorrangig der sprachlichen Diskriminierung , wie es beispielsweise Stereotype oder negative Assoziationen tun ( S CHWARZ - F RIESEL 2013:339ff. ). Sie ist also 9 Die Anführungszeichen wurden ohne Abänderung aus den Originalzitaten entnommen. Daher sind die in den Zitaten verwendeten Anführungszeichen nicht konsistent. 10 Zur Geschichte der Phrase siehe Kapitel 4 7 nicht per se diffamierend aufzufassen. Jedem das Seine gehört viel eher einer vierten Kategorie an, zu welcher u.a. auch das Lexem Euthanasie (vgl. F ELDER 2009:13) zählen könnte. Hiermit sind Lexeme oder Wendungen gemeint, die für das nationalsozialistische System umgedeutet und missbraucht 11 wurden und daher mit dem Nationalsozialismus in Verbindung geb racht werden. Dass sich diese Verbindung jed och nicht zwangsläufig aufrecht erhalten lässt, zeigt ein Beleg von S TERNBERGER /S TORZ /S ÜSKIND (1968:8). Sie schreiben: „Das Wort >>Lager<<, so harmlos es einmal war und wieder werden mag, können wir doch auf Lebze iten nicht mehr höre n, ohne an Auschwitz zu denken.“ Gleichzeitig existiert ein elementarer linguistischer Unterscheid zwischen einem Lexem wie Euthanasie und der universell einsetzbaren Phrase Jedem das Seine 12 D ass Jedem das Seine – auch konträr zu Arbe it macht frei – nicht zu den prominenten Kategorien gehört, kann als ein weiterer Grund dafür angesehen werden, warum die Phrase nicht zwangsläufig mit der NS - Zeit in Verbindung gebracht wird. Daher gleicht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Phrase eher einem Desiderat Es existieren jedoch einige Artikel , die diesem Umstand entgegenzuwirken versuchen. Hierzu zählt u.a. H EYL (1998), der es sich aufgrund mehrmaliger Verfehlungen von Werbetreibenden zur Aufgabe machte, über die Geschichte der Ph rase aufzuklären oder auch B RUNNSEN (2010 :290 ), der festhält, dass es „ b is heute [. .] den Deutschen nicht überzeugend gelungen [ist] , einen verbindlichen gesellschaftlichen Konsens über den angemessenen Umgang mit nationalsozialistisch belasteten Wörtern und Wendungen “ herzustellen. Gerade diese s Werk, wie auch der Aufsatz von K LENNER (2002) sind für die vorliegende Arbeit von großer Bedeutung. Im nachfolgenden Kapitel sollen zwei weitere Ursachen dargelegt werden, die die „ahistorisch profane“ ( B RUNNSEN 2 010:290) Verwendun g der Phrase begründen könnten. 11 Es existieren wissenschaftliche Überlegungen, die nicht zwangsläufig von einem Missbrauch der Phrase sprechen. So stellt beispielsweise Klenner fest, dass „die Meinungen, ob im Falle des KZ Buchenwald ein Gebrauch oder ein Mißbrauch des Schlagwortes vorliegt“ weit auseinandergehen (K LENNER 2002:331). 12 Zu linguistischen Merkmalen der Phrase siehe Kapitel 3 8 2.3 Forschungsstand zur Kenntnis des Nationalsozialismus Will man die gesellschaftliche Sensibilität im Umgang mit NS - Sprache fördern , so ist es von großer Bedeutung, dass eine prinzipielle Kenntnis des Natio nalsozialismus vorherrscht. Dass dies jedoch nicht zwangsläufig der Fall ist, zeigen verschiedene Studien. So konnte Forsa im Auftrag des Magazins S TERN (2012) herausfinden, dass beispielsweise 21 Prozent der 18 - bis 30 - Jährigen den Begriff Auschwitz nicht einordnen konnten. 13 Wie A HLHEIM /H EGER (2002) in einer Studie mit 2200 Studierenden der Universität Essen herausfinden konnten, verfügten 54 Prozent der Befragten über lückenhaftes Faktenwissen zum Nationalsozia lismus und Holocaust. 17 Prozent verfügten ga r über ein geringes Faktenwissen. 14 Eine Studie des Forschungsverbandes SED - Staat der Freien Universität Berlin von 2012 kon nte außerdem festhalten, dass nur etwa die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler den Nationalsozialismus einer Diktatur zuord nen würde. 15 Immerhin 25 Prozent einer Forsa - Umfrage von 2007 sind der Meinung, dass der Nationalsozialismus auch gute Seiten gehabt hat. 16 Bei den Hauptsch ulabsolventen waren es sogar 44 Prozent Die dargelegten Fakten machen eine Kenntnis der geschichtlich en Zäsur der Phrase Jedem das Seine sehr unwahrscheinlich. Aus diesen Gegebenheiten folgt jedoch eine viel weitreichendere Konsequenz, die einen dramatischen Einfluss auf die gesellschaftliche Aufklärung bezüglich des Nationalsozialismus und respektive auc h Jedem das Seine hat. Betrachtet man die weiterführenden Ergebnisse der Studie von A HLHEIM /H EGER (2002) , so wird deutlich, dass 47 Prozent der Studierenden mit geringem Faktenwissen einen „Schlussstrich“ hinter die nationalsozialistische Vergangenheit Deu tschlands ziehen wollen (vgl. Abbildung 1 ) . Selbst bei Studierenden mit gutem Faktenwissen sind es immer noch 29 Prozent . Bei der beschriebenen Forsa - Umfrage für den S TERN (2012) waren es gar 40 Prozent , die sich f ür einen Schlussstrich aussprachen. 17 13 http://www.zeit.de/gesellschaft/2012 - 01/umfrage - auschwitz (zuletzt eingesehen am 19.0 3.2017). 14 Gestellte Fragen der Studie u.a.: Wann bega nn/endete der zweite Weltkrieg? Was passierte in der s ogenannten Reichskristallnacht? Was wurde auf der Wannsee - Konferenz geplant? A HLHEIM /H EGER (2002:63). 15 http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/ schueler - wissen - wenig - ueber - ddr - und - nationalsozialismus - a - 841157.html (zuletzt eingesehen am 21.03.2017). 16 http://www.stern.de/politik/deutschland/stern - umfrage - hatte - die - ns - zeit - gute - seiten -- 3228902.html (zuletzt eingesehen am 21.03.2017). 17 In einer Umf rage der Bertelsmann - Stiftung von 2007 waren es sogar 57 Prozent ( Z ICK 2010:232). 9 Abbildung 1 : Ergebnisse der Studie zum Wissen über den Nationalsozialismus aus A HLHEIM /H EGER (2002:68). „ Die Schluss strich - Forderung stützt sich dabei [...] auf das Argument, lange genug sei der Erinnerungs - und Gedenkpflicht genüge getan und es seien hinreichend finanzielle Reparationen geleistet worden “ ( S CHWARZ - F RIESEL /R EINHARZ 2012:281). Während Unwissenheit mit gesellschaftlicher Aufklärung, wissenschaftlichen Arbeiten und medialer Sensib ilisierung entgegenzuwirken wäre, verhält es sich bei der Forderung nach einem Schlussstrich anders. Gerade weil ein adäquater Umgang mit NS - Sprache Empathie erforde rt – da der unbedarfte Gebrauch vieler Wendungen nicht strafbar ist – wirkt sich eine „ Über drussmentalität “ ( S CHWARZ - F RIESEL /R EINHARZ 2012:282) gravierend auf eine adäquate Erinnerungskultur aus. „Das Zurückweisen der Erinnerungskultur ist gekoppelt an die Verweigerung eines emphatischen Gefühls: Keinerlei Verstän dnis wird für das Bedürfnis der Opfer(nachkommen) gezeigt, die Erinnerun g an den Holocaust wachzuhalten“ ( S CHWARZ - F RIESEL /R EINHARZ 2012:282). Denn während bei einem Teil der Gesellschaft „ historische Erinnerung (etwa bei den Überlebenden) oder historisches Bewusstsein und Sensibilität vo rhanden [ist] “ , und die Phrase Jedem das Seine „ unweigerlich Assoziationen an den nationalsozialistischen Terror wachrufen “ wird ( H EYL 1998:5), gibt es ebenfalls einen Teil , der „vom Trauma der Davongekomm enen nichts wissen will, eine[r] Auseinandersetzung mit dem Sprachgebrauch des Nationalsozialismus“ ( B RUNNSEN 2010:311) skeptisch gegenüber steht und einen endgültige n Schlussstrich ziehen möchte. Gerade diese Gründe machen eine angemessene Erinnerungskultur, die auch den Umgang mit Jedem das Seine beinhalt et , so komplex und gesellschaftlich polarisierend. Es zeigt sich, dass die eingangs proklamiert e These zum Teil relativiert werden muss. Es ist nicht nur die besondere Rolle von Jedem das Seine im Vergleich zu anderen 10 sprachlichen Phänomenen der NS - Zeit (K ap. 2.2 ) , die dafür sorgt, dass der nationalsozialistische Hintergrund der Phrase größtenteils unbekannt ist. Es ist weiterhin das Fehlen von wissenschaftlicher Aufklärung in der Nachkriegszeit (Kap. 2.1 ), die Unwissenheit zum Nationalsozialismus im Allgemeinen und die Forderung nach einem E nde der Erin nerungskultur, die eine Verwendung der Phrase in „ahistorisch profaner Bedeutung“ ( B RUNNSEN 2010:290) fördern. Betrachtet man Jedem das Seine aus phra seologischer Sicht, so zeigen sich weitere markante Merkmale , die einen universellen Einsatz in vers chiedenen Kont exten ermöglichen und somit einen wichtigen Anhaltspunkt für eine ahistorische Verwendung darstellen. 3 Ph raseologische Merkmale von Jedem das S eine Ein für die folgend e Untersuchung wichtiger Faktor ist die Einordnung von Jedem das Seine hinsichtlich phr aseologischer Merkmale. P ALM (1995 :3) definiert die Wendung eindeutig als Sprichwort und somit als Unte rkategorie von Phraseologismen. 18 Sprichwör ter „sind in sich geschlossene Sätze, die durch kein lexikalisches Element an den Kontext angeschlossen werden müssen“ ( B URGER 2010:106). Insofern Jedem das Seine als geschlossener Satz definiert wird, weist er eine syntaktische Irregularität auf, da er ei nen verblosen Aufforderungssatz darstellt ( P AUL 1995:134). 19 Weiterhin ist Jedem das Seine eine polylexikalisch feste Wortverbindung, die sowohl gebräuchlich 20 als auch strukturell fest ist. 21 B URGER (2010:37ff.) nimmt folgende Klassifikation für den Gesamtbe reich der Phraseologie vor ( vgl. Abbildung 2 ) 18 U.a. F LEISCHER (1997:255) zählt Sprichwörter nicht zur Klasse der Phraseologismen: „Im Unterschied, zu Routineformeln und Phraseolexemen, die als Einheiten des Sprachsystem s reproduziert werden, werden Sprichwörter als Texte zitiert“. 19 Im Korpus wird Jedem das Seine sowohl textwertig, satzwertig wie auch satzgliedwertig verwendet. 20 Das zeigen die zahlreichen Ergebnisse des Korpus. 21 Das wird ebenfalls durch die syntaktisc he Irregularität deutlich. Weitere phraseologische Merkmale wie Modifikation und Variation werden analog zur Analyse verschiedener Belege ab Kapitel 5.2 erörtert. 11 Abbildung 2 : Klassifikation der Phraseologie Weil kommunikative Phraseologismen „bestimmte Aufgaben bei der Herstellung, Definition, dem Vollzug oder der Beendigung kommunikativer Handlungen“ ( B URGER 2010:36) besitzen, das Sprichwort hingegen als referentiell eingeordnet wird, zeigt sich hier bereits die Problematik einer strikten Definition. Sprichwörter können nach K OLLER (1977:52) ebenfa lls „den Höhepunkt oder den Abschluß eines Gesprächs“ markieren und nach L ÜGER (1999:161) der Ablaufregulierung (z.B. Eröffnung oder Zusammenfassung von Abschnitten ) 22 dienen. Sie haben somit oftmals eine textlinguistische Funktion. Gerade für Jedem das Sei ne trifft das – wie in Kapitel 5.2.4 gezeigt wird – zu. Referentiell - propositionale Phraseologismen sind „Aussagen über Objekte und Vorgänge“, die satzwertig oder textwertig sind ( B URGER 2010:37). L ÜGER (1999:92) hingegen defin iert, dass Sprichwörter „in der Regel keine Verweise auf irgendwelche Situationsfaktoren“ beinhalten. Die nachfolgende Analyse wird zeigen , dass Jedem das Seine beide beschriebenen Definitionen bedienen kann. Ebenfalls konträr zu L ÜGER (1999:131) gliedert B URGER (2010:37ff.) satzwertige Phraseologismen nicht nach dem Kriterium der Idiomatizität, sondern nach syntaktischen und textlinguistischen Kriterien. Hieraus ergeben sich dann die Klassen feste Phrasen 23 und topische Formeln Topische Formeln sind genera lisierende Aussagen, die „auch ohne Verankerung in einem spezifischen Kontext, einer spezifischen Situation verständlich sind“ ( B URGER 2010:41). 22 Auch R ÖHRICH /M IEDER (1977:81) erkennen in Sprichwörtern die Fu nktion der Zusammenfassung. 23 Sie beziehen sich durch deiktische/anaphorische Elemente direkt auf den Kontext. 12 Sie können somit prinzipiell kontextfrei verstanden werden, wobei dies gerade für Jedem das Seine , wie diese Ar beit zeigen wird , nicht immer gilt. Auch B URGER (2010:106) relativiert dieses Merkmal zumindest in Teilen. Betrachtet man die topischen Formeln weiter, so ergeben sich zwei Unterkategorien. Gemeinplätze definieren keine neuen Erkenntnisse und haben einen tautologischen Charakter. Zumindest P ETERSEN (2017:45) erkennt dieses Merkmal in Jedem das Seine basierend auf einer Definition als Gerechtigkeitsformel (vgl. Kap. 4.1 ). Linguistisch betrachtet besteht jedoch ein Unterschied zw ischen Gemeinplätzen wie Was sein muss, muss sein und Jedem das Seine , da Jedem das Seine vielmehr die Form eines „All - Satzes“ aufweist, die nach B URGER (2010:106) charakteristisch für Sprichwörter sind und somit einen generalisierenden Aspekt aufweisen Eine Definition als Sprichwort leuchtet somit durchaus ein. Verweist man jedoch mit der Verwendung der Phrase beispielsweise auf Cicero oder Platon , so ist eine Definition als Geflügeltes Wort ebenfalls möglich. Eine strikte Trennung zwischen Sprichwort un d Geflügeltem Wort wie L ÜGER (1999:131) 24 sie vornimmt, hat in der folgenden Analyse keinen Mehrwert, da dieses Kriterium bei Jedem das Seine erst durch die explizite Definition des Verfassers zum Tragen kommt und sich die Semantik der Phrase zum Teil darau s erst ergibt. 25 „Entscheidend ist jeweils, dass bei den Sprechern ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass der Ausdruck auf eine bestimmte [...] Quelle zurückgeht“ ( B URGER 2010:48). Das Kapitel 5.2.9.1 untersucht die Definition als Geflügeltes Wort genauer. Die Wendung Jedem das Seine kann somit sowohl als Phrase , G eflügeltes Wort wie auch als Sprichwort definiert werden 26 Eine strikte Definition wäre für diese Untersuchung nicht nur nicht förderlich, sondern sogar schädlich, da Jedem das Seine eine Mischform ist, die je nach Situation heterogene Funktionen 27 aufweist und auch von Verfassern zum Teil kontrastiv gedeutet wird. Hierzu zählen insbesondere auch verschiedene 24 L ÜGER geht nach dem Kriterium +/ - belegbar vor. 25 Im Korpus liegen beide Verwendungsweisen vor. 26 S TEIN (1995:45) liefert noch weitere poten zielle Bezeichnungen, die ebenfalls für Jedem das Seine gelten könnten ( Redewendung, Redensart, formelhafte Wendung, Phraseologismus, vorgeformter Ausdruck, sprachliches Fertigteil, Routineformel usw. ). Unter diesen Bezeichnungen subsumieren sich jedoch di e bereits definierten Charakteristika. 27 Diese werden im weiteren Verlauf der Arbeit analog zu thematischen Domänen (ab Kapitel 5.2.3 ) genauer definiert. 13 pragmatische Funktionen ( K OLLER 1977:70 ff , G RZYBEK 1 9 84:225), die u.a. als „Warnung, Überredung, Mahnung , Zurechtweisung, Feststellung, Charakterisierung [...]“ ( R ÖHRICH /M IEDER 1977:81) gedeutet werden können und „eine bestimmte Bewußtseinsänderung beim Rezipienten“ ( G RZYBEK 1984:225) erzielen möchten. 28 Ziel dieser Ar beit ist es, diese hohe Variabilität einer Phrase hinsichtlich ihrer Funktion, Semantik und metasprachlicher Deutung präzise darzustellen. Denn gerade aus der vielfältigen Anwendbarkeit ergibt sich womöglich einer der Gründe, warum die Phrase nicht nur im Kontext des Nationalsozialismus verwendet wird. „Doch ist ohnehin nicht die Eindeutigkeit, sondern die Deutungsvielfalt intelligenter Sätze das Normale. Schon deshalb, weil sich der geistige Gehalt eines Textes ohne dessen jeweiligen Kontext nicht erschlie ßen läßt“ ( K LENNER 2002:3 27). 4 Geschichte der Phrase n Für eine angemessene Untersuchung der Phrasen Jedem das Seine sowie dem lateinischen Äquivalent suum cuique ist ein e ausführliche geschichtliche Betrachtung von großer Bedeutung. Nachfolgend soll erläute rt werden, wo die jeweiligen Phrasen ihren Ursprung haben, in welchem Kontext sie verwendet wurden und welche Semantik ihnen zugewiesen werden kann. 4.1 Suum cuique in der Antike Erste Spuren der Phrase finden sich bereits bei Platon in seinem Werk Politeia ( Der Staat) um etwa 370 v.Chr., in welchem er sich mit der Aushandlung von Gerechtigkeit auseinandersetzt 29 In einem Gespräch zwischen Glaukon und Sokrates definiert Sokrates Gerechtigkeit wie folgt: „[...] Gerechtigkeit sei, daß jeder das Eigene und das Sein ige hat und tut “ ( P LATON 2016:155/433e). Nach B RUNNSEN (2010:295) bedeutet das, dass jeder „die seinen Fähigkeiten und Lebensumstände n gemäße Rolle im Staat spielt.“ Schon in dieser Definition zeigt sich die individuelle Auslegungsmöglichkeit der Phrase , d a H ÄRLE (2011:56) anmerkt, dass während Gerechtigkeit „in der Philosophie vor und nach Platon [...] definiert worden war als die Tugend, durch die jedem zuteilwird , was 28 Zur Funktion von Phraseologismen im Allgemeinen siehe Kapitel 5.2.2 14 ihm zusteht („suum cuique“), sagt Platon, Gerechtigkeit bestehe darin, dass jeder das Sei nige tut“. Jeder soll also das tun, „wozu er von Natur besonders veranlagt sei“ ( P LATON 2016:154/433a) Platon definiert somit konträr zu anderen Gerechtigkeitsdefinitionen eine aktive Rolle des Menschen, in welcher er sich auch selbst verwirklichen kann. Obwohl die lateinische Phrase suum cuique freilich nicht in der griechischen Antike verwendet wurde, zeigt sich doch, dass die bei Platon definierte Gerechtigkeitsinterpretation Grundlage für nachfolgende Auslegungen war. So konkretisierte Cicero in seiner Schrift De Officiis (von den Pflichten) die Aushandlung von Gerechtigkeit mit den Worten suum cuique , um zu beschreiben , was moralisches Handeln ist. „ M it dem Einsatz für die menschliche Gemeinschaft, der Bereitschaft, jedem Einzelnen das zuzuteilen, was ihm zukommt [...]“ ( C ICERO 2008 :21/1, 15) 30 Cicero beschreibt somit außerdem die aktive Rolle des Staates, welcher es sich zu r Aufgabe machen solle, jedem etwas zuzuteilen. Fälschlicherweise verweisen sowohl L AUTERBACH (2002:385) als auch B RUNNSEN (2010:296) auf Kapitel 24 31 des ersten Buches (Liber primus) von Cicero mit dem Wortlaut: „ iustitiam, suum cuique tribuit, alienum non vindicat, utilitatem propriam negle(i)git ut communem aequitatem custodiat “ ( A MBROSE 2002:184). Dieser Satz stammt jedoch von Ambros ius, einem Bischof aus Mailand , und ist in seinem gleichnamigen Werk erschienen, welches jedoch lediglich eine Nachahmung von Ciceros Schriften ist. Basierend auf Ciceros Definition verfasste der oströmische Kaiser Justinian I. 533 n. Chr. in seiner Samml ung bürgerlichen Rechts (Corpus Iuris Civilis) den Satz „iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens“ 32 ( J USTINIAN I 1997:1 / Inst. 1,1,0 ) Gerechtigkeit ist demnach „ der unwandelbare und dauerhafte Wille , jedem sein Recht zu gewähre n.“ Die Gebote des Rechts sind nach Justinian I. folgende: „Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, jedem das Seine gewähren“ ( J USTINIAN I 1997:1/ Inst. 30 Übersetzung: „in hominum societate tuenda tribuendoque suum cuique et rerum contractarum fide“ ( C ICERO 2008:20/1, 15). 31 In Kapitel 24 ist jedoch folgendes vermerkt: „Atque illae quidem iniuriae, quae nocendi causa de industri a inferuntur, saepe a metu proficiscuntur, cum is, q